Für die gesellschaftliche Konjunktur von Vererbungswissen setzte das Jahr 1945 eine oft beschriebene Zäsur. Die seit den 1960er Jahren geführte Diskussion über die Anwendbarkeit neuer Gentechnologien verlief dennoch vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus. Die Tagung „Genetik und Gesellschaft“ im Jahr 1969 stellte einen markanten Wegpunkt bioethischer Diskurse dar, reflektierte sie doch die Beunruhigung der Öffentlichkeit gegenüber den humangenetischen Fortschritten. Die Organisatoren Georg Wendt, Friederich Vogel und Peter Becker postulierten die Humangenetik als eine Disziplin, die sich von den „Wunschvorstellungen der Nazizeit“ loszusagen schien. Die öffentlichkeitswirksame Veranstaltung zielte darauf ab, das „Bild einer modernen und gesellschaftlich relevanten Wissenschaft“ zu zeichnen. Der amerikanische Gastredner Lionel S. Penrose unterstrich die Verortung der Disziplin in der Medizin. Die Ziele seien folgerichtig die Behandlung und Vorbeugung von genetischen Krankheiten auf Grundlage individuell getroffener Entscheidungen.
Die Schwierigkeiten dieser inhaltlichen Abgrenzung von der „Rassenhygiene“ wird besonders in dem auf der Tagung präsentierten Konzept der „Sozialgenetik“ deutlich. Peter Becker und Hans Jürgens entwickelten hier ein Forschungsprogramm, welches die Wechselwirkungen zwischen sozialem Wandel und genetischer Zusammensetzung der Bevölkerung untersuchbar machen sollte. Obwohl der „Sozialgenetik“ eine vermeintlich deduktive Vorgehensweise zu Grunde lag, gelang es den Wissenschaftlern in ihrem Vortrag nicht, sich von eugenischen Narrativen und Degenerationsszenarien loszusagen. Vielmehr musste Becker in der Diskussion zugeben, dass er „wissenschaftliche Ergebnisse, die bisher unter der Flagge der Eugenik segelten, herausgenommen wissen möchte aus diesem angefochtenen und strittigen Wertbereich und sie einordnen möchte in eine Sozialgenetik als Wissenschaft.“ Somit stellte die „Sozialgenetik“ entgegen aller Abgrenzungsversuche ein Instrument der Humangenetiker dar, um auf Eugenik abzielende Gesellschaftsdiagnosen zu popularisieren oder überhaupt wieder salonfähig zu machen. Aus dem Diskussionsprotokoll der Tagung geht keine weitergehende Problematisierung dieser Frage hervor.
Die Mechanismen zwischen humangenetischem Anwendungswissen und ethischen Problemstellungen bedürfen einer fundierten historischen Analyse. Die forschungspraktischen Auswirkungen eines solchen Forschungskonzepts „Sozialgenetik“-Konzepts illustrieren sich am bisher wissenschaftshistoriographisch unbeachteten Beispiel des Münsteraner Instituts für Humangenetik: Im Jahr 1967 wies die DFG noch einen Forschungsantrag aus dem Institut als „antiquiert“ zurück, der eine Untersuchung der Reproduktion von Menschen mit Behinderung vorschlug. Nach ihrer Teilnahme an der Marburger Tagung modifizierten die Antragssteller, Widukind Lenz und Wilhelm Tünte, den Antrag im Sinne der „Sozialgenetik“. Das populationsgenetische Wissensobjekt, namentlich die „biologischen Auswirkungen angeborener Mißbildungen“, blieb unverändert. Trotzdem lief der Antrag mit dem Label „Sozialgenetik“ bei den Gutachtern offene Türen ein und erhielt eine siebenjährige Förderung der DFG. Der Gutachter Friedrich Vogel bekundete Interesse bezüglich dem „Problem der Intelligenz und Lebensbewährung“ und der „eugenischen Konsequenzen der Medizin“.